Medizinnobelpreis 1946: Hermann Joseph Muller

Medizinnobelpreis 1946: Hermann Joseph Muller
Medizinnobelpreis 1946: Hermann Joseph Muller
 
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Der amerikanische Biologe erhielt den Nobelpreis für die Entdeckung, »dass Mutationen mittels Röntgenstrahlen hervorgerufen werden können«.
 
 
Hermann Joseph Muller, * New York 21. 12. 1890, ✝ Indianapolis (Indiana) 5. 4. 1967; 1915-18 Rice-Institut in Houston (Texas), 1925 Professor in Austin (Texas), ab 1933 an der Akademie der Wissenschaften in Leningrad und Moskau, 1938 in Edinburgh, ab 1940 am Amherst College (Massachusetts), ab 1945 in Bloomington (Indiana), grundlegende Arbeiten auf dem Gebiet der Genetik.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit folgendem Vergleich leitete das Nobelpreiskomitee die Begründung der Auszeichnung Hermann Mullers ein: »Stark vereinfacht ähnelt eine Röntgenstrahlung einer Dusche aus unendlich kleinen, aber hochexplosiven Granaten, die im bestrahlten Organismus an verschiedenen Stellen explodieren. Die Explosion oder die herumfliegenden Zelltrümmer zerreißen die Zelle oder verletzen sie erheblich. Geschieht die Explosion in der Nähe der Erbanlagen, kann auch deren Struktur und damit ihr Einfluss auf den gesamten Organismus verändert werden.« Mit dem Nobelpreis 1946 schränkte das Komitee die Bedeutung des allerersten Nobelpreises für Physik, den es im Jahr 1901 verliehen hatte, wieder ein. Damals wurde die Entdeckung der X-Strahlen durch den Würzburger Physiker Wilhelm Conrad Röntgen enthusiastisch gefeiert. Selbst auf Jahrmärkten waren die neuen Strahlen eine Riesenattraktion, Ärzte durchleuchteten alle Objekte, die ihnen vor das Gerät kamen. Nach einiger Zeit aber häuften sich Krankheiten wie Krebs und andere Tumoren bei Menschen, die häufig mit Röntgenstrahlen umgingen. Offensichtlich hatten die Wunderstrahlen aus Würzburg auch gefährliche Nebenwirkungen. Genau diese Effekte konnte Hermann Muller exakt identifizieren: Sie verändern das Erbgut schwerwiegend.
 
 Was ist ein Gen?
 
Als Röntgen seine Strahlen entdeckte, wusste niemand so genau, wie denn dieses Erbgut aussieht. Es steckt irgendwie in den Chromosomen, wurde in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vermutet. Darin befänden sich so genannte Gene, die für einzelne Erbanlagen zuständig seien. Wie diese Gene aussehen könnten und welchen Einfluss sie auf den Organismus haben, wusste kein Forscher. Das Gen war damals mehr eine philosophische Idee als eine naturwissenschaftliche Realität.
 
Seit 1910 machte sich eine Gruppe von Forschern genauere Gedanken über diese geheimnisvollen, fast mystisch anmutenden Gene. Neben Hermann Muller gehörte auch Thomas Morgan zu dieser Gruppe, der 1933 den Medizinnobelpreis für seine Arbeit über die Rolle der Chromosomen bei der Vererbung erhielt. Das Gen wurde als winziger Bestandteil der Zelle entlarvt, der sich mit den Methoden der Naturwissenschaften erforschen lässt.
 
Noch immer wusste niemand, wie ein Gen genau aufgebaut ist, viele Forscher stellten es sich als großes Protein vor. Diese Annahme ist längst als falsch widerlegt. Trotzdem erwiesen sich solche Hypothesen als sehr wichtig, die den Genen eine feste materielle Substanz zuwiesen. So konnte man sich jetzt vorstellen, dass jedes Gen für bestimmte Eigenschaften eines Organismus zuständig ist. Für gleiche Eigenschaften können verschiedene Tiere daher gleiche Gene haben, für verschiedene Eigenschaften haben sie eben unterschiedliche Gene. Aus der Kombination solcher unterschiedlichen Gene entstehen Individuen, die sich ein wenig von anderen Mitgliedern der gleichen Art unterscheiden, die ein paar andere Gene besitzen.
 
 Mutation durch Strahlung
 
Schon seit der Jahrhundertwende wussten Genetiker, dass spontane Veränderungen im Erbgut möglich sind, die wiederum die Eigenschaften der betroffenen Organismen verändern. Es gibt offensichtlich eine ganze Reihe solcher Veränderungen, einige davon betreffen die Gene direkt. Diese Veränderungen in den Genen selbst sind jedoch sehr selten. Heute werden diese Veränderungen Mutationen genannt. Sie lassen sich nur mithilfe eines sehr genauen Experiments beobachten. Bereits Morgan schlug daher vor, Fruchtfliegen zu untersuchen, um Veränderungen in den Genen aufzuspüren. Diese Insekten vermehren sich sehr rasch, deshalb kann ein Wissenschaftler Tausende von Individuen gleichzeitig untersuchen. Obendrein sind Fruchtfliegen einfacher aufgebaut als ein relativ komplexes Säugetier. Auch das erhöht die Chance erheblich, eine Mutation zu entdecken. Hermann Muller entwickelte zunächst in einer mehrjährigen Arbeit sehr elegante technische Methoden, mit denen er die Häufigkeit solcher Mutationen exakt messen konnte. Als diese Methoden etabliert waren, testete der Wissenschaftler verschiedene Einflüsse auf das Erbgut und entdeckte so, dass Röntgenstrahlen sehr viele Mutationen auslösen. Bei bestimmten Experimenten zeigten sich praktisch im Erbgut aller Fruchtfliegen-Nachkommen solche Veränderungen. Gleichzeitig konnte der Forscher mit diesem Experiment zeigen, dass die Zahl der Mutationen von der Stärke des äußeren Einflusses, in diesem Fall also der Röntgenstrahlen abhängt. Als er 1927 seine Arbeiten veröffentlichte, wurde rasch eine Reiheweiterer Experimente mit den Muller'schen Methoden durchgeführt, die seine Ergebnisse bestätigten.
 
 Gegen Atomversuche
 
Die Experimente von Hermann Muller beflügelten gleichzeitig die Genetik. Eine Disziplin dieser Wissenschaftsrichtung untersucht vor allem spontane Mutationen und wie sich diese weiter vererben. Mithilfe von Röntgenstrahlen und anderer Strahlung können solche Veränderungen künstlich ausgelöst und in Experimenten genauer analysiert werden.
 
Hermann Muller gilt daher als einer der führenden Genetiker seiner Zeit, der sich obendrein seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft immer bewusst war. Als er zum Beispiel erkannte, dass die meisten spontanen Mutationen durch Röntgen- und andere ionisierende Strahlen dem Organismus eher schaden als nutzen, bezog er in der Öffentlichkeit 1955 sehr deutlich gegen oberirdische Atomversuche Stellung. Diese verstärken die Strahlung in der Atmosphäre und erhöhen damit die Mutationsrate beim Menschen. Häufigere Missgeburten seien die Folge, lautet der dramatische Hintergrund seines Appells.
 
Allerdings brachten seine Experimente Hermann Muller auch zu Aussagen, die aus heutiger Sicht zumindest nachdenklich stimmen. So sprach er sich für eine Politik der Eugenik aus, also für eine gezielte Erbauswahl durch Spermienbanken. Mit medizinischen Maßnahmen wollte er so die Erbanlagen verbessern. Seit den Experimenten der Nationalsozialisten im Dritten Reich in Deutschland stoßen solche Versuche eher auf Skepsis als auf Zustimmung.
 
R. Knauer, K. Viering

Universal-Lexikon. 2012.

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